NACHTEULE, 2006

Graphit auf Bütten

80 x 59 cm

Reproduktion von Marco Wittkowski

 

„Als die Geschwister so äußerst müde und verdrießlich ihres Weges zogen, trafen sie eines Tages auf eine Eule, die mit einer dicken Brille auf einem Tannenzweig saß und munter in die Sonne blinzelte. „Was bedrückt Euch“, frug der Vogel. „Ach Eule“, seufzte das Mädchen tief. Und dann begann sie ihr Leid zu klagen. Und sie erzählte von dem schweren Batzen, den ihnen der König und die Königin aufgeladen und sie dadurch die Freude an ihrer Reise verloren hatten. Die Eule dachte kurz nach. „Wisst Ihr nicht, dass Ihr die Könige und Königinnen dieser Welt zu meiden habt? Sie widersprechen sich andauernd und kein Mensch kann ihnen folgen. Sie wissen nur das, was ihren kritzelnden Lakaien einfällt. Und diese Einfalt ist groß.“ Die Brille der Eule schien auf der Nase zu drücken, denn sie kratzte sich dort. Dann fuhr sie fort: „Nicht Eurem Weg gilt der Könige Drängen, sondern ihrer eigenen Huldigung. Huldigt ihnen also und sagt ‚ja ja‘, aber dann geht unbeirrt Eures Weges. Und bewahrt Euch die Neugier für die wunderbaren und fremdartigen Dinge dieser Welt.“ Dann steckte sie den Kopf unter ihre Flügel und begann ihren täglichen Mittagsschlaf.“

Aus: Geschichten aus 1001 Promotion, „Das Märchen von der langen Reise“ von Stefan Matysiak, 2006, Klinkhardt Verlag